Vom Archiv bis zum Audio: So nutzt der SPIEGEL künstliche Intelligenz

  10.10.2025

Künstliche Intelligenz beschäftigt die gesamte Medienbranche. Zwischen Euphorie und Skepsis suchen viele Verlage nach einer Antwort: Wie können wir KI nutzen, ohne unser Kerngeschäft und unser Vertrauen zu gefährden? Der SPIEGEL liefert hier ein besonders interessantes Beispiel. Im Podcast „Subscribe Now“ schilderte Oliver Reißmann, „Director AI“ beim SPIEGEL, wie das Hamburger Medienhaus seit gut zwei Jahren einen Kurs verfolgt, der sich klar von manchem Hype unterscheidet: KI soll die journalistische Arbeit unterstützen und das Abo-Produkt stärken – nicht ersetzen.


KI für Qualität, nicht für Masse

Während manche Medienunternehmen experimentieren, mit KI große Mengen an Texten oder Social-Media-Beiträgen zu produzieren, verfolgt der SPIEGEL bewusst einen anderen Weg. „Unsere rote Linie ist, dass wir uns nicht hinter KI verstecken“, sagt Reißmann. Am Ende bleibe immer ein Mensch verantwortlich für den Artikel.

Das bedeutet konkret:

  • Kein automatischer Content-Fließbandbetrieb – der journalistische Kern wird nicht durch KI ersetzt.

  • Stattdessen: KI unterstützt bei Struktur, Faktencheck, Recherche oder Verifikation.

  • Ziel: Qualität erhöhen, Vertrauen sichern und Leser:innen Mehrwert bieten.

Dieser Grundsatz zieht sich durch alle Projekte.


Text-to-Speech: Alle Artikel zum Anhören

Eine der sichtbarsten Neuerungen betrifft die tägliche Produktion: Mehr als 100 Artikel erscheinen jeden Tag im SPIEGEL – und nahezu alle sind mittlerweile auf Knopfdruck anhörbar.

Das ist mehr als ein nettes Feature:

  • Technisch wird mit einer KI-Stimme gearbeitet, die selbst komplizierte Zahlen, Fremdwörter oder Abkürzungen korrekt wiedergibt.

  • Praktisch können Leser:innen Artikel beim Pendeln, Kochen oder Sport hören – ohne Bildschirm.

  • Strategisch verlängert Audio die Verweildauer deutlich und stärkt damit die Abo-Bindung.

Während Podcasts und Hörformate schon länger eine Rolle spielen, zeigt der SPIEGEL hier, wie KI bestehende Inhalte schnell in ein zusätzliches Nutzungsformat verwandeln kann.


Das Archiv als Schatz

Ein besonderes Asset des SPIEGEL ist das gigantische Pressearchiv. Viele Inhalte liegen dort, die über Google oder andere Suchmaschinen nicht auffindbar sind – weil sie hinter Paywalls stehen oder von kleineren Regionalzeitungen stammen.

Dieses Archiv wird nun mithilfe von KI erschlossen.

  • Semantische Suche macht es möglich, Zusammenhänge schneller zu erkennen als mit herkömmlichen Schlagwort-Suchen.

  • Praktische Anwendungen: automatisierte Timelines, FAQ-Module oder Explainer-Texte, die Redakteur:innen bei der Vorbereitung unterstützen.

Der Unterschied zu ChatGPT oder Google: Statt auf „irgendwelche“ frei verfügbaren Quellen zurückzugreifen, kann der SPIEGEL auf ein exklusives, geprüftes Material bauen.


Faktencheck mit KI-Unterstützung

Qualitätssicherung ist ein Markenkern des SPIEGEL. Über 60 Mitarbeitende in der Dokumentation prüfen normalerweise die Fakten der großen Stücke. Doch bei rund 120 Artikeln täglich ist nicht alles überprüfbar.

Deshalb hat der Verlag ein KI-gestütztes Faktencheck-Tool eingeführt:

  • Es scannt automatisch Artikel und gleicht einfache Fakten ab – etwa Daten, Zahlen, Namen.

  • Flüchtigkeitsfehler können so vor der Veröffentlichung korrigiert werden.

  • Die Arbeit der Dokumentation wird dadurch nicht ersetzt, sondern ergänzt.

Langfristig ist geplant, dass jeder Text einmal durch diese Maschine läuft – als „doppelter Boden“. Reißmann: „Wir wollen KI nutzen, um weniger Fehler zu machen – nicht, um mehr Inhalte schneller rauszuschieben.“


Experimentieren mit neuen Produktformen

Anders als einige internationale Medienhäuser setzt der SPIEGEL nicht auf einen Chatbot mit eigenem Branding. „Wir glauben nicht, dass Menschen unbedingt mit dem SPIEGEL chatten wollen“, sagt Reißmann. Stattdessen werden andere Formate getestet:

  • Erklär-Layer: Kleine Zusatzmodule direkt im Artikel, die Begriffe oder Hintergründe erklären. Vergleichbar mit Wikipedia-Sidebars.

  • Einfache Sprache: Inhalte automatisch in leichter verständliche Versionen übertragen – ein Angebot für neue Zielgruppen.

  • Übersetzungen: Auch fremdsprachige Versionen von Artikeln sind ein mögliches Einsatzfeld.

  • Liquid Content: Aus einem Text entstehen verschiedene Varianten: kurze Bulletpoints, Audio, Zusammenfassungen.

Das Ziel: Bestehende Inhalte in mehr Nutzungssituationen bringen – ohne die redaktionelle Arbeit zu entwerten.


Klare rote Linien

Um Missverständnisse zu vermeiden, hat der SPIEGEL klare Regeln formuliert, wo KI nicht eingesetzt wird:

  • Keine KI-generierten Newsfotos. Fotorealistische KI-Bilder in der Berichterstattung würden das Vertrauen untergraben.

  • Keine KI-Texte ohne menschliche Verantwortung. Jede Veröffentlichung bleibt unter Autor:innenschaft.

  • Transparente, aber präzise Kennzeichnung. Statt „Dieser Text wurde mit KI erstellt“ – was Leser:innen misstrauisch macht – wird genau benannt, was passiert ist („automatisch vertont“, „Zusammenfassung erstellt“).

Die Erfahrung zeigt: Pauschale KI-Labels werten Inhalte eher ab. Präzise Transparenz hingegen schafft Vertrauen.


Partnerschaften mit Plattformen

Neben den internen Projekten sind auch die Beziehungen zu großen Tech-Firmen relevant. Der SPIEGEL unterscheidet dabei scharf zwischen zwei Arten der Nutzung:

  • Training der Modelle: kritisch, da Inhalte „weg“ sind, sobald sie einmal trainiert wurden.

  • Grounding / Echtzeitzugriff: wertvoll, da aktuelle Inhalte in Chatbots oder Suchmaschinen sichtbar werden.

Mit OpenAI und anderen Plattformen gibt es bereits Vereinbarungen. Für Verlage ist das doppelt interessant: Einerseits sorgt es für Sichtbarkeit in neuen Interfaces (z. B. KI-Suchmaschinen). Andererseits können daraus auch neue Erlösströme entstehen.


Audio & Personalisierung als Retention-Booster

Neben Archiv und Faktencheck betrachtet der SPIEGEL vor allem zwei Felder als besonders wirkungsvoll für Abos:

  1. Audio-Nutzung: Längere Hörzeiten korrelieren mit geringerer Kündigung.

  2. Personalisierung: Erste Tests laufen, allerdings mit redaktionellen Leitplanken. Nicht nur Klicks sollen entscheiden, sondern Vielfalt und Tiefe bleiben Pflicht.

Damit setzt der Verlag ein Gegengewicht zu rein algorithmischen Plattform-Feeds.


Fazit

Der SPIEGEL setzt KI dort ein, wo sie konkret hilft – etwa beim Vorlesen von Artikeln, beim Faktencheck oder bei der Archivnutzung. Gleichzeitig vermeidet das Haus die größten Risiken: keine KI-Newsfotos, keine Massenproduktion, keine Vertrauensverluste durch pauschale „KI“-Labels. Für Lokalverlage muss das nicht heißen, sofort dieselben Projekte umzusetzen. Aber es zeigt, dass man mit Bedacht und klaren Regeln auch in einem großen Verlag Wege findet, KI kontrolliert und nützlich einzusetzen – ohne das eigene Profil aufzugeben.


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